Geschichten, Gedichte, Essays
von Jens Grabarske
Im Tal der fehlenden Geschichten
Geschichten sind mehr als Unterhaltung, sie halten uns am Leben. Was, wenn sie fehlen?

Das Bild, “Mountain ridge seen through wide valley” von Horia Varlan, wurde durch die CC BY 2.0 lizensiert.

Dieser Text wurde auf dem Hammer Poetry Slam im Januar 2014 vorgetragen. Hier eine Aufnahme, der Text findet sich dadrunter:


Worte ziehen wie wabernde Nebel durch die Szenerie, die Attribute und Beschreibungen flüstert von dem was war. Durch das Dickicht von Pronomen und Satzzeichen bricht ein wilder Vergleich, der sich alsbald in den Nebensätzen verliert. Doch wir dringen weiter und stoßen vor in eine Einöde, eine Wüste der Gedanken und Sinne. Es versagt uns die Stimme, wir sehen es vor uns wie in den Gedichten, wir sind im Tal der fehlenden Geschichten.

Unvergleichliche Momente spiegeln sich in blank polierten Steinen wieder, deren jede Beschreibung spottet. Keine Worte vermögen zu sagen, zu tragen, zu prahlen, zu verraten, was man hier sieht oder sah. Eine Fülle von Erfahrung hier, verdorrt es doch die Worte und die bloße Frage danach, was war oder wie es wird vermag der Wanderer nicht zu sagen, es versandet ihm im Mund und das labende Wasser der Erzählung bleibt aus.

Zur Wegzehrung nehmen wir uns Geschichten von anderswo und teilen sie ein, spärlich benutzt, sparsam verwendet. Die Geschichte von dem Restaurant, in dem wir zu viel aßen bis das Lachen schmerzte muss uns für den nächsten Abschnitt tragen und bringt uns doch nur gerade genug Nass um nicht an Geschichtenlosigkeit zugrunde zu gehen.

Tiefer und tiefer durchschreiten wir das Tal, umringt nur von dornigen Erinnerungen und kantigen Gedächtnisblitzen, bis wir in der Mitte all dieses Jammers einen Ort sehen, grün bewaldet, voll Felsen und Klippen, mit Wasser und Tieren. Eine Oase inmitten der Wüste, auf die wir zusteuern, fiebernd wie der Sterbende, der die Medizin ersehnt. In letzter Kraft erreichen wir die wohligen Worte des wabernden Weiers, dessen Wunder uns heilen.

Regungslos und erschöpft liegen wir an des Strandes Biegung bis der Vollmond uns bescheint und das Licht der Sterne uns zufunkelt und damit der letzten Worte Hauch verstummt um die Ruhe der Nacht zu wahren und bis zum Morgen die Gedanken in Schlafeswirrungen taumeln zu lassen.

Am morgen noch stillen wir unseren Durst an Menschenwärme aus der Quelle, die bereitwillig murmelnd uns Lachen schenkt. Wir geben uns dem Moment hin, als wäre er ewig, als hätten die Ströme von glitzernden Metaphern uns Ewigkeit eingehaucht. Doch wir wissen, dass wir fort müssen, zurück durch die Einöde und wir hoffen, dass die Geschichtenvorräte reichen und dass der letzte Tropfen nicht verdunstet bevor das Band zwischen uns verdörrt und verdurstet. Umsichtig und vorsichtig benetzen wir sie, immer bedacht darauf, nicht zu viel der Worte zu verschwenden und jeden Laut zählen zu lassen.

Doch das Schweigen holt uns ein und so ziehen wir, gefangen in unserer Sprachlosigkeit, hoffend das jenseits aller Worte es der Bund zwischen Menschen ist, der uns treibt und halten uns bangend und hoffend den anderen zu spüren, bis am Ende des Tals wir die Hand des anderen in der unseren fühlen. Und unsere Zunge gibt dem Begleiter den Namen “Freund”.


Last modified on 2014-01-18