Geschichten, Gedichte, Essays
von Jens Grabarske
Große Jungs weinen nicht
Als der Vater nach einem Streit abhaut, bricht Tobis Welt zusammen. Und zwar mehr, als der Junge es verstehen kann.

Das Bild, “Cam by the mysterious concrete wall”, von ClickFlashPhotos / Nicki Varkevisser, wurde unter der CC BY 2.0 lizensiert

Dies ist die deutsche Übersetzung der Geschichte “Big Boys Don’t Cry”, mit der ich 2013 bei dem “Zombies, Run” Fan-Wettbewerb in der Kategorie “Writing (Prose)” den ersten Platz gewann. Das Original findet ihr hier.

Von dieser deutschen Fassung gibt es ein Hörspiel, das von Kevin Szesch, Mel Strunk, Gabor Rebner und mir eingesprochen wurde. Ihr könnt euch das hier anhören:


Ich habe etwas schlimmes gemacht und jetzt ist nichts mehr in Ordnung. Und ich hab Angst und ich will nicht, dass es nicht in Ordnung ist, aber es ist alles meine Schuld. Und jetzt ist Papa weg und Mama ist wütend auf mich und Peter ist weg. Ich habe noch seine Actionfigur. Er gab sie mir, als ich 16 wurde. Er sagte, dass ich sie haben kann, weil wir Freunde sind.

Peter ist schlau. Er ist 10 und lebt nebenan. Ich weiß, dass er schlau ist, weil er rechnen kann und er lesen kann und er lacht immer, wenn wir Fernsehen gucken und ich nicht verstehe, warum es lustig ist. Er geht auch auf eine normale Schule.

Ich habe ihn eine Weile nicht gesehen. Ich war in meinem Versteck, wo ich hingehe, wenn ich allein sein will und ich konnte sehen, wie er zum Auto rannte mit seinem Papa und seiner Mama und Koffern. Da steckten Dinge aus den Koffern raus. Und dann fuhren sie weg und waren verschwunden. Ich wäre zu ihnen hingegangen um “Hallo” zu sagen oder sie zu fragen, wo sie denn hin wollen, aber ich weinte und ich will nicht, dass Peter es sieht, wenn ich weine. Er sagt, dass Weinen was für Babys ist. Und das muss wahr sein, weil Mama immer sagt, dass große Jungs nicht weinen und dass ich jetzt ein großer Junge bin. Aber dann umarmt sie mich und küsst mich und wuschelt mir durchs Haar. Und dann höre ich auf zu weinen, weil es sich gut anfühlt. Aber ich konnte nicht zu Mama gehen an dem Tag, weil sie wütend auf mich war, weil ich gemacht hatte, dass Papa weg gegangen ist.

An dem Tag, an dem ich gemacht hatte, dass Papa weg ging, machte Mama mir ein Bad. Mama war für eine Weile bei Oma gewesen und ist früher zurück gekommen. Und als sie zurückkam, hatte sie die Wanne mit Wasser und Schaum gefüllt. Ich mag Schaum. Sie sagte, dass ich mich fürs Baden fertig machen soll und ich zog mein Hemd aus. Mama sah mich komisch an und drehte mich um.

Dann fragte sie: “Tobi, woher hast du das?”

Und ich wusste, was sie meinte, weil ich mit Papa darüber gesprochen hatte und ich sagte, dass ich die Treppe heruntergefallen war.

“Tobi, war das dein Vater?”

Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte, weil ich Papa versprochen hatte nichts zu sagen und er hatte mir eine große Tüte Süßigkeiten gekauft und ich hatte alles auswählen dürfen und ich wollte ihn nicht wütend machen, aber ich wollte Mama auch nicht wütend machen. Also atmete ich ganz schnell und das machte Mama richtig aufgeregt und sie sagte “Oh mein Gott” ganz oft und fing an zu zittern. Und dann sagte sie “Liebling, warte einen Moment, ok?” und sie machte die Tür auf und ging raus und da wusste ich, dass ich in Schwierigkeiten war, weil sie Papa erzählen würde, dass ich nicht gesagt habe, dass ich die Treppe runter gefallen war.

Ich hörte, wie sie runter ging und mit Papa sprach und es wurde richtig laut und sie fingen an zu brüllen und ich kriegte richtig Angst. Ich presste meine Hände auf meine Ohren, aber ich konnte sie immer noch hören und ich fing an zu weinen, weil ich wusste, dass ich Mist gebaut hatte und ich nicht zu meinem Versteck konnte, weil ich mich fürchtete, nach unten zu gehen.

Ich ging hinunter nachdem ich hörte, wie die Tür ganz laut geknallt hatte und ich nur noch Mama weinen hören konnte. Und ich umarmte sie und ich küsste sie und sie umarmte mich und ich sagte ihr, dass es mir leid tut, dass wegen mir Papa weggegangen ist und da weinte sie sogar noch mehr. Weil ich weiß, dass es meine Schuld gewesen sein musste. Ich hatte gehört wie sie schrie

“Er ist ein guter Junge, Stefan! Er ist ein guter Junge!”

und wie Papa schrie

“Er ist zurückgeblieben, Rita, das ist es, was er ist! Zurückgeblieben! Und mehr wird er niemals sein!”

Peter hatte mir gesagt, dass “zurückgeblieben” ein Wort ist für Leute wie mich, aber dass es nicht nett ist. Also wusste ich, dass Papa wütend auf mich war, dass ich Mama nicht gesagt hatte, dass ich die Treppe runter fiel und deswegen war er gegangen.

Am nächsten Morgen war Mama nicht da um mich zu wecken. Das passiert manchmal, also hatte ich keine Angst. Ich ging runter und machte mir selber Frühstück, weil ich ein großer Junge bin und ich weiß, wie das geht, du musst nur Müsli und Milch in eine Schüssel tun. Und ich aß mein Müsli und dann habe ich ferngesehen aber da gab es nirgendwo Zeichentrickfilme und das war komisch und fast alle Sender zeigten dieselbe Sendung und der Rest zeigte gar nichts. Also ging ich in mein Zimmer um zu spielen. Dann hörte ich ein Geräusch, also ging ich wieder runter und da war Mama auf dem Rasen. Ich ging zu ihr um ihr einen guten Morgen zu wünschen um zu sehen ob sie immer noch traurig war, weil Papa weg war, aber sie starrte mich nur an und ihre Augen sahen komisch aus und ihre Haut war seltsam. Sie kam auf mich zu, aber sie bewegte sich wie Papa wenn er in der Bar gewesen war und zu viel von diesem stinkenden Zeug getrunken hatte.

Ich mochte es nicht, dass Mama wie Papa ging. Das hat sie vorher nie gemacht. Sie mochte es nicht, wenn Papa es machte. Und ich mochte es nicht, weil, wenn Mama bei Oma war und Papa in der Bar gewesen war, hörte er auf, nett zu mir zu sein und nahm seinen Gürtel und sagte zu mir, ich soll näher kommen, damit er “die Dummheit aus mir rausprügeln” könne. Und das tat sehr weh, aber ich will, dass die Dummheit weg geht wenn das bedeutet, dass ich so schlau wie Peter sein kann. Am nächsten Tag sagte Papa immer, dass es ihm leid tat und dass er Mama so sehr vermisste und dass manchmal die Dinge ihm zu viel werden und dann kauft er mir Eis oder Süßigkeiten und lässt mich ihm versprechen, dass ich Mama sage, dass ich die Treppe runtergefallen wäre.

Es ist falsch, Versprechen zu brechen. Und Mama muss herausgefunden haben, dass ich eins gebrochen habe und deswegen umarmt sie mich nicht oder küsst mich und läuft wie Papa und macht diese Geräusch wie diese Monster das in den Fernsehsendungen machen, die ich nicht sehen darf, weil ich davon Alpträume bekomme.

Und ich erinnerte mich daran wie sehr es das letzte Mal weh getan hatte, als Papa mich mit dem Gürtel geschlagen hatte, also rannte ich vor Mama davon und ging in mein Versteck. Das war der Moment, wo ich Peter und seine Mama und seinen Papa weggehen sah und ich glaube, das war, weil Mama verärgert war. Später sah ich einen Laster wie in den Filmen mit Soldaten und die sagten irgendwas laut über Lautsprecher. Sowas wie “Räumung”, was ich nicht verstand, weil ich mein Zimmer gar nicht aufräumen musste, das war ganz ordentlich.

Aber es gab Leute, die zu dem Laster kamen und anstanden und da erinnerte ich mich, dass Soldaten häufig dabei helfen, Menschen zu finden und Mama muss sie gebeten haben mich zu finden, weil ich gemacht habe, dass Papa weg ist und ich ein Versprechen gebrochen habe und sie mich mit einem Gürtel schlagen muss. Und die Leute wollten helfen, wie bei dem Jungen, der sich in der Nähe von Hannover verlaufen hatte. Aber ich wollte bis zum nächsten Tag warten, weil Mama dann vielleicht wieder lieb ist, wie Papa wieder lieb ist am Tag danach. Und ich war in meinem Versteck und ich wollte nicht, dass die Leute sehen, dass ich weinte.

Ich schlief in meinem Versteck. Ich holte meine Decke und meinen Teddy aus dem Haus. Ich machte mir Sorgen, dass Mama mir über den Weg laufen könnte, aber sie war nicht da. Am nächsten Tag suchte ich nach ihr. Sie war in der Nähe vom Haus der Schmidts. Aber sie sagte nichts. Sie umarmte mich nicht oder küsste mich. Sie ging immer noch wie Papa und sie sah immer noch komisch aus und machte immer noch diese Geräusche, die man auch an Halloween macht, wo ich immer im Bett bleibe weil ich Angst kriege.

Also lief ich zurück zum Haus und ich wusste, dass ich echt Mist gebaut hatte, weil Mama immer noch wütend auf mich war. Ich sah auch andere Leute. Sie gingen alle wie Mama und machten diese Geräusche und hatten seltsame Augen und seltsame Haut. Mama muss ihnen gesagt haben, dass ich ein Versprechen gebrochen hatte und dass Papa wegen mir fort ist und sie müssen wirklich wütend geworden sein und nun wollen sie alle mich mit ihren Gürteln schlagen.

Also holte ich Essen aus dem Haus und ging zurück in mein Versteck und wartete auf den nächsten Tag um zu sehen, ob es Mama dann besser ginge. Aber sie war immer noch wütend am nächsten Tag und dem nächsten Tag und dem nächsten Tag. Und dann hatte ich kein Essen mehr, also ging ich zum Laden.

Der Laden gehört Herrn Meier und der ist immer nett und lächelt freundlich und manchmal gibt er mir ein paar mehr Süßigkeiten. Mama gibt mir normalerweise Geld und eine Liste, aber ich konnte sie nicht fragen, weil sie immer noch wütend war, also ging ich trotzdem. Da war niemand im Laden, nicht einmal Herr Meier. Das war komisch und ich blieb da und wartete, bis mir einfiel, dass er auch wütend sein muss, weil ich ein Versprechen gebrochen hatte und weil ich gemacht hatte, dass Papa weg ist, also suchte er wohl nach mir. Und da kriegte ich Angst, also nahm ich ein paar Schokoriegel und Müsli und Käse und Wurst und ich verließ den Laden. Ich dachte, dass Mama ihm das bezahlen könne, aber dann fiel mir ein, dass ich das Zeug genommen hatte ohne zu bezahlen und dass das Diebstahl ist und ich jetzt ein Dieb bin und Mama sogar noch wütender sein könnte. Und mein Magen drehte sich um und ich wollte es zurückbringen, aber ich hatte echt Hunger, also rannte ich einfach zurück in mein Versteck.

Ich ging häufig zu dem Laden, wenn ich hungrig wurde und ich kein Essen mehr hatte. Ich hob alle Verpackungen auf, damit Mama Herrn Meier später bezahlen kann. Aber es war Diebstahl und Diebstahl ist böse. Als ich nichts mehr in Herrn Meiers Laden fand, ging ich zum Lidl die Straße runter. Und dann zu Rewe. Peter sagte mal, dass, wenn man ein Verbrecher ist und man bereut, dass man das getan hat, kann man sich selber stellen, das bedeutet, man geht zur Polizei und gibt zu, dass man es war und dann ist die Strafe nicht so hart. Und ich fühlte mich schuldig und ich wollte nicht mit einem Gürtel geschlagen werden, also ging ich zur Polizeiwache um zu sagen dass ich ein Versprechen gebrochen hatte und dass ich gemacht hatte, dass Papa fort ging und dass ich ein Dieb war und dass sie mich einsperren müssen, weil man das so macht mit Verbrechern.

Da war niemand, aber es stank echt furchtbar. Dennoch, ich war ein Verbrecher und ich konnte nicht einfach gehen. Der Polizeiwachtmeister hatte mal unserer Klasse eine Führung durch die Polizeiwache gegeben. Er hatte uns auch die Zellen gezeigt, wo sie Leute einsperren. Er hatte gesagt: “Und das hier ist der Raum in den wir dich einsperren, wenn du ein böser Bube gewesen bist!” und er hatte mir zugezwinkert. Und ich bin ein böser Bube gewesen, also ging ich zu der Zelle. Aber die war nicht leer. Da lag ein Mann drinnen und der bewegte sich nicht und der sah sehr krank aus und der stank furchtbar und er sah aus wie ein Skelett mit Haut. Ich habe mal mit meiner Mama eine Fernsehsendung gesehen, wo sie über Kinder in Afrika sprachen, die nicht genug Essen kriegen und dann sehen die wie Skelette aus und dann sterben sie. Also denke ich, der Mann starb, weil er kein Essen bekam. Und das muss sein, weil er in der Zelle eingesperrt war und niemand Ihm Essen gab, weil die alle damit beschäftigt waren, mich zu suchen. Er starb also wegen mir.

Ich rannte zurück zu meinem Versteck und fing an zu weinen und ich sah, dass ich ein Versprechen gebrochen hatte und gemacht hatte, dass Papa fort war und ich hatte Mama wütend gemacht und ich hatte alle wütend gemacht und ich hatte gemacht, dass Peter fort ist, und seine Mama und sein Papa und ich stahl von Herrn Meier und von Lidl und von Rewe und weil ich ein Versprechen gebrochen hatte ist ein Mann gestorben, also bin ich auch ein Mörder. Und ich verstand, dass ich nur alles in Ordnung bringen kann, wenn ich zu Mama gehe. Ich will nicht mit einem Gürtel geschlagen werden, aber ich möchte die Dinge wieder gut machen und ich brauche meine Mama. Vielleicht ist sie wieder in Ordnung, nachdem sie mich mit einem Gürtel geschlagen hat, wie Papa. Und sie kauft mir Süßigkeiten und Eis und sie bittet mich zu schwören zu sagen, dass ich die Treppe runter gefallen bin, und ich halte das Versprechen, weil ich ein großer Junge bin und ich sie nicht wütend machen möchte.

Und dann gehen wir Papa suchen und ich kann ihm sagen, dass es mir leid tut, dass ich sein Versprechen gebrochen hatte und dass es nie wieder vorkommen wird und dann vergibt er mir. Und dann können wir Peters Papa und Peters Mama Bescheid sagen, dass sie mich gefunden haben und dass sie zurückkommen können und sie können den Nachbarn Bescheid sagen, dass sie nicht mehr wütend sein müssen, weil alles wieder gut ist.

Das werde ich machen. Ich werde jetzt zu Mama gehen. Sobald ich aufgehört habe zu weinen. Ich will nicht, dass Mama mich weinen sieht. Ich möchte ihr zeigen, dass ich ein großer Junge bin.

Aber ich hab’ Angst.


Last modified on 2013-02-23