Geschichten, Gedichte, Essays
von Jens Grabarske
Weihnachten extrem
Besinnliches Fest? Von wegen! Weihnachten ist Krieg! Nur die Harten haben eine Chance das durchzustehen.

Das Bild, “christmas tree ornament” von zaimoku_woodpile, wurde durch die CC BY 2.0 lizensiert.

Dieser Text wurde auf dem Hammer Poetry Slam im Dezember 2013 vorgetragen. Hier eine Aufnahme, der Text findet sich dadrunter:


Weihnachten.

Das Wort allein jagt selbst gestandenen Männern den Angstschweiß über den Rücken.

Volle Einkaufszentren, verstopfte Passagen, Schlangen bis auf die Straße von Leuten, die erst kürzlich erfahren haben, wann denn jetzt der Termin für Weihnachten ist und nun panisch noch schnell Geschenke kaufen, die aber nicht wissen, was!

Man fleht Familienmitglieder an, sich doch bitte nichts zu schenken. Ratlose Eltern suchen Übersetzungsbüros, weil sie die Wunschliste ihrer Kinder nicht verstehen. Männer brechen weinend beim Damenbekleidungsgeschäft zusammen, weil sie nach der Konfektionsgröße ihrer Frauen gefragt wurden.

Samstags treiben Völkerwanderungsströme über viel zu schmale Boulevards zum Weihnachtsmarkt hin in einer Enge, die jede Sardinenbüchse wie einen luxuriösen Loft erscheinen lässt. Ein Spießrutenlauf zwischen Holländern, die aus unerfindlichen Gründen sich genau DIESEN Markt anschauen wollen, Menschen, die aus unerfindlichen Gründen meinen, sich durch einen überfüllten Markt zu pressen sei “Entspannung” und Glühweintrinkern, die aus unerfindlichen Gründen meinen, “mitten im Weg” ist der richtige Ort um zusammen herumzustehen.

Doch wir sind in dieser lebensfeindlichen Atmosphäre zu Hause. Wo über die Köpfe der giftige Gestank aus Glühwein, Spekulatius und Lebkuchen wabert, wo die Ohren durch eine Kakophonie von “Oh du Fröhliche”, “Jingle Bells” und “White Christmas” gefoltert werden, wo man bei jedem Schritt darauf achten muss, kein Kind tot zu treten oder wenigstens nicht das eigene, da findet man uns.

Wir sind Extremweihnachtenfeierer.

Andere nehmen Weihnachten auf die leichte Schulter und werden dann in den letzten Tagen vor dem Fest hoffnungslos von dem Stress überrollt, aber wir… wir sind vorbereitet.

Unser Adventskalender hängt schon seit Juli, im September beschwerten sich schon die Nachbarn zwei Straßen weiter, dass sie wegen der Weihnachtsbeleuchtung nachts nicht richtig schlafen können und seit Oktober läuft “Last Christmas” von Wham bei uns auf Dauerschleife.

Ein Jahr lang haben wir trainiert. Immer wieder Eimer mit Marzipankartoffeln von einem Ende des Raums zum anderen getragen. Gelernt, sämtliche Tannenarten am Geschmack unterscheiden zu können. Und wir haben eine Detektei ein Jahr lang unsere Freunde von Verwandte ausspionieren lassen um zu wissen, was wir schenken sollen.

Zum Beispiel wünscht sich Tim eine Modelleisenbahn, die möglichst realistisch ist. Also habe ich auf Ebay eine ersteigert, die nicht fährt und ihm eine Bandansage aufgenommen, dass das an Verzögerungen im Betriebsablauf liegt. Tante Erna bekommt eine Box mit Karel Gotts größten Hits. Die hat sie schon voriges Jahr bekommen und hatte sich sehr darüber gefreut, also schenke ich ihr die noch einmal und hoffe auf ihren Alzheimer.

Und Onkel Bernd bekommt… au nein. Ein Loch in meiner Planung. Onkel Bernd, wie konnte ich ihn übersehen. Ich brauche noch ein Geschenk für ihn. Der besorgte Blick auf den Adventskalender mit der überhitzten Schokolade: Es ist der 24. - Heiligabend. Es gibt nur noch eine Chance, der Weihnachtsmarkt.

Ich kämpfe mich durch die Massen in die Innenstadt und zwänge mich auf den Marktplatz. Angekommen bewaffne ich mich. Eine Tüte brühend heiße Maronen links, eine Tüte steinharte Mandeln rechts. So gehe ich breitbeinig auf den Platz und halte Ausschau.

Dort, in der Ferne, sehe ich die Erlösung. Das Wahrzeichen meiner Stadt in einer geschmacklosen, aber irgendwie interessanten künstlerischen Form, ein wenig kitschig mit Schnee bedeckt. Perfekt. Wertlos, nutzlos und teuer. Aber es ist nur noch eine da. Und im Augenwinkel sehe ich schon jemand anderen, der das Ding mit großen Augen anblickt.

Wir schauen uns mit Verachtung an und fangen an zu laufen. Immer näher kommen wir dem Stand, aber zu meinem Entsetzen ist er schneller. Ich nehme eine Marone und werfe sie ihm ins Auge. Er schreit vor Schmerz auf, aber kontert mit einem Christstollen, den er mir auf den Kopf wirft. Verdammt. Er ist auch ein Extremweihnachtenfeierer. Er läuft wieder, während ich noch benommen um mich greife. Meine Hand erfasst einen Sammeleimer der Heilsarmee. In hohem Bogen werfe ich diesen in seine Richtung. Die Münzen regnen über die Menschenmasse und Kinder sammeln diese fleißig auf und versperren ihm den Weg.

Doch er hat meinen Plan durchschaut. Geistesgegenwärtig schreit er: “Der Weihnachtsmann ist nicht echt, eure Eltern haben euch belogen!” Fassungslos richten sich die Gören auf und starren ihn mit flatternden Lippen an. Das gibt ihm den Moment an ihnen vorbeizuspringen - genau in die Mandeln, die ich dem Sammeleimer hinterher geworfen hatte. Er gerät ins Schlittern, taumelt, fällt - und ich bin als erster an dem Stand.

Fassungslos muss er am Rande zusehen, wie ich bezahle und mit einem süffisanten Lächeln den Markt verlasse. Weihnachten ist gerettet.

Es kommt die Bescherung. Ich bringe die Gans mit. Die habe ich selbst gemästet nach einer Anleitung im Internet. Das könnte erklären, warum sie schon Anfang November tot war, aber wozu hat man eine Gefriertruhe. Vor der Bescherung singen wir “Oh du Fröhliche”, ich singe sämtliche Strophen in allen Sprachen auswendig. Die anderen fangen schon einmal ohne mich an.

Tim guckt ein wenig bedrückt, weil die Eisenbahn nicht fährt. Ich tröste ihn mit der Telefonnummer von Hartmut Mehdorn und verspeise den Stollen, den mir der andere auf dem Markt an den Kopf geworfen hatte.

Onkel Bernd schenkt mir das Wahrzeichen meiner Stadt in einer geschmacklosen aber irgendwie interessanten künstlerischen Form. Ich lächle angestrengt und sage ihm, dass ich ihn als Geschenk ins Kino einlade.

Tante Erna freut sich über die Karel Gott CDs. Sie sagt, sie hätte mal welche gehabt, aber als sie diese die Woche davor hören wollte, waren sie wohl irgendwie abhanden gekommen und sie konnte sie nicht wiederfinden. Ich wechsle schnell das Thema.

Am nächsten Tag werde ich gefragt, ob ich mit ins Theater komme. Ich sage, dass ich keine Zeit habe, da ich mich vorbereiten muss. In 364 Tagen ist wieder Weihnachten.


Last modified on 2013-12-20