Geschichten, Gedichte, Essays
von Jens Grabarske
Die Waldgeister
Ein alter Mann und sein Enkel machen einen Spaziergang im Wald. Ein Gastbeitrag für den Phantastischen Montag.

Phantastischer Montag - unter diesem Schlagwort publizieren Alexa Pukall, Maike Stein, C. A. Raaven und Carola Wolff jede Woche eine Geschichte. Immer von einer bzw. einem der Autor(inn)en, aber pro Monat immer zu denselbem Thema. Da aber dieser Monat, der unter dem Motto “Wald” steht, fünf Montage hat, haben sie mich eingeladen, den fünften Beitrag beizusteuern.

Ich möchte mich ganz herzlich für diese Ehre bedanken. Lest unbedingt auch die Beiträge der anderen:

  • Carola Wolff entführte uns als erste diesen Monat in den Wald in Flötentöne
  • C. A. Raaven folgte eine Woche drauf mit der schön schaurigen Geschichte No one knows
  • Wie es den Waldwesen mitunter geht erzählte uns Maike Stein in Wintersonnenwende
  • Und Alexa Pukall erzählte die Dinge aus der Sicht des Waldes in Ein stilles Jahr

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Und ich darf nun den Abschluss machen mit der Geschichte Die Waldgeister. Viel Vergnügen!


“Opa, hast du dich herausgeputzt?”

Der alte Herr zuckte wie ertappt zusammen.

“Oh, fällt es auf?”

“Du trägst einen Anzug, bist frisch rasiert und… rieche ich da Parfüm?”

Er hielt kurz inne darin, die Picknickbrote mit Butter zu beschmieren, und legte den Kopf schief. Dann lächelte er und meinte: “Nun ja, seit mein Lieblingsenkel diesen neuen Job hat, kommt es ja leider nicht so häufig vor, dass wir zusammen in den Wald gehen. Als du Kind warst, waren wir fast jeden Tag zusammen unterwegs und nun vielleicht einmal im Monat.”

Ich senkte den Kopf.

“Ja, tut mir leid, Großvater, ich würde gerne häufiger kommen, aber…”

Er legte eine Hand auf meine Schulter und lächelte.

“Junge, das war doch kein Vorwurf. Insbesondere da du ja auch der einzige der Familie bist, der mit mir in den Wald geht. Egal wie weit der Weg ist.”

Unser Weg war gerade nicht sehr weit. Großvater hatte schon vor Jahren ein Haus direkt am Waldrand erworben. Er wollte jeden Tag “seinen” Wald im Blick haben.

Wir liefen langsam den Waldweg entlang.

“Du weißt, dass du wegen deiner Altersdiabetes eigentlich Schuhe tragen solltest, oder?”

Ich zeigte auf seine Füße, die wie immer nackt waren bei diesen Ausflügen.

“Das hat mir der Arzt auch gesagt. Eine Verletzung an den Füßen kann sich schneller entzünden. Aber ich habe es euch immer gesagt. Dieser Wald wird mich nie verletzen oder mir wehtun. Freunde verletzen einander nicht. Ich verletze den Wald nicht - und er verletzt mich nicht.”

Die Sonne stand schon tief, als wir zu einer Lichtung kamen. Wir setzten uns auf eine Bank und bedienten uns vom Picknickkorb.

“Normalerweise picknicke ich heutzutage immer mit Herrn und Frau Amsel und der Familie Reh.”

“Dass du Tiere immer so förmlich ansprichst. Ich hätte das ja gerne einmal gesehen, wie die Tiere mit dir zusammen sitzen.” sagte ich und biss in mein Brot.

“Das Problem ist, dass es lange braucht, bis der Wald jemandem traut. Und wer könnte es ihm verdenken? Wie die Menschen mit der Natur umgehen ist es ein Wunder, dass der Wald mir traut.”

Ich spülte mein Brot mit einem Schluck Tee herunter und erwiderte:

“Das ist nicht das Problem, Großvater. Das Problem ist, dass dich die Leute für bekloppt halten, weil du sagst, dass die Tiere deine Freunde sind und keine Scheu vor dir haben, dass das aber nie jemand wirklich gesehen hat.”

“Eine Wahrheit bleibt eine Wahrheit, auch wenn sie keiner bezeugen kann. Glaubst du mir denn?”

“Was?” fragte ich. “Dass der Wald und die Tiere deine Freunde sind seit du einem Waldgeist geholfen hast, ein paar Bäume zu retten?”

“Ja.” antwortete Großvater ruhig.

Ich dachte lange nach. Dann räusperte ich mich und sagte:

“Ich glaube, dass du diesen Wald liebst. Und ich glaube, dass du viel für ihn getan hast, damals, als Naturschützer. Ich liebe den Wald auch. Aber ich glaube nicht an Waldgeister.”

Dann schwiegen wir beide. Schließlich sagte Großvater:

“Ich habe dir das Haus überschrieben.”

Ich sah ihn mit großen Augen an.

“Die Papiere sind beim Notar. Du kannst morgen dort deine Unterschrift leisten und dann gehört es dir.”

“Aber… warum?” stotterte ich.

“Die einzige Zuneigung, die ich von dem Rest der Familie noch erfahren darf, reicht nur so weit wie es das Erbe tut. Und die Geier kreisen schon und warten nur auf mein Ableben. Ich möchte aber, dass du auf jeden Fall das Haus bekommst. Du und nur du allein. Und alles, worum ich dich dafür bitte, ist: sieh hier im Wald nach dem Rechten. Pass auf, dass niemand diesen Flecken Erde planiert um ein Parkhaus zu bauen. Versprichst du mir das?”

Mein Mund ging auf und zu und dann nickte ich. “Ich verspreche es.”

Die Dämmerung setzte ein und man sah bereits den Vollmond am Himmel. Ich runzelte die Stirn.

“Ist… ist das nicht die alte Eiche da vorne?”

“Ja.”

“Hast du nicht immer gesagt, dass wir die Waldlichtung bei der alten Eiche meiden sollen in einer Vollmondnacht?”

“Richtig, Junge. Erinnerst du dich noch warum?”

Ich knetete die Finger.

“Wie könnte ich das vergessen. Du hast uns das als Kinder so stark eingebläut, dass ich davon Alpträume bekommen hatte. Du hast gesagt, dass immer zu Vollmond auf dieser Lichtung die Waldgeister sich treffen. Und wir sollen sie nicht stören.”

“Bitte erzähle das auch deinen Kindern, wenn du welche haben solltest.”

“Und… warum sind wir dann heute hier?”

Mein Großvater sah mich mit weichen Augen an und sagte:

“Heute… ist eine Ausnahme, mein Junge.”

Die Dämmerung schreitete immer weiter voran und der Himmel wurde schwarz. Es war nicht bewölkt und so konnten wir das Sternenzelt über uns sehen. Und der Mond leuchtete die Lichtung wunderbar aus. Obwohl es Nacht war, konnte ich von meiner Position aus alles erkennen.

Ich wartete bis zum Morgengrauen um den Krankenwagen zu rufen. Ich erklärte den Sanitätern dass die Nachtwanderung ein letzter Wunsch meines Großvaters war. Dass sein Leichnam deswegen so ein zufriedenes Lächeln hatte. Und warum er keine Schuhe trug.

Ich erzählte ihnen nichts von dem Reigen, den ich in der Nacht sah. Wie die Lichtung sich mit Waldgeistern füllte, die wie Kinder aussahen, die alle barfuß waren. Und wie er ihnen die Hand reichte und sie mit ihm im Kreis tanzten. Wie mit jeder Drehung er jünger und jünger wirkte, bis auch er ein kleiner Junge war, der im Morgengrauen noch einmal die Hand hob und mich anlächelte. Ich hob die Hand ebenfalls und dann waren sie verschwunden.

Ich wartete, bis die Rettungsmannschaft weggefahren und ich wieder allein auf der Lichtung war. Dann zog ich meine Schuhe und die Strümpfe aus und machte ein paar Schritte. Der Boden war wie Samt. Und Steinchen unter meinen Sohlen fühlten sich wie weiche Schwämme an. Ein Eichhörnchen huschte aus einem Baum auf mich zu und erklomm in Windeseile erst mein Hosenbein und wirbelte dann um meinen Oberkörper herum bis es meine Schulter erreicht hatte.

Ich gab ihm das letzte Ei aus dem Picknickkorb und sagte:

“Ich denke es ist an der Zeit, nach Hause zu gehen, Herr Eichhörnchen.”


Last modified on 2020-03-30