Geschichten, Gedichte, Essays
von Jens Grabarske
Der Galgenweg
Der letzte Gang eines Mannes. Doch ist er wirklich schuldig?

Diese Geschichte wurde 2018 für das Aldradacher Stadttheater geschrieben und auf dem Drachenfest aufgeführt. In der vorliegenden Form wurde es 2020 veröffentlicht in der Anthologie “Geschichten aus Aldradach”


Einhunderteinunddreißig Schritte noch in meinem Leben.

Der Schweiß rinnt mir in die Augen, doch ich kann ihn nicht wegwischen, meine Hände hinter meinem Rücken gebunden, mein Arm halb verdreht. Die Schritte nur so weit wie das Seil zwischen meinen Knöcheln erlaubt.

Schritt um Schritt.

Um mir die Meute tobt und schreit, doch ich höre nichts. Ich sehe nichts. Der Henker treibt mich voran. Ich spüre nur mein Herz, wie es schlägt Und das Salz auf meinen Lippen.

Einhundertsechzehn Schritte noch in meinem Leben. “Maria…” denke ich. Denke an ihre weichen Lippen und ihren zarten Busen Ich erinnere mich, wie unsere Körper sich umschlungen und umwunden, wie wir beide wie von Sinnen uns griffen und sie meinen Namen rief. Ich sah sie danach an und die Sterne verblichen und ich sagte, dass ich sie liebe. Nichts wollte ich mehr schmecken als ihre Lippen. Nichts mehr spüren als ihre Hand auf meiner Brust. Nichts mehr hören als meinen Namen, wie sie ihn aussprach.

Wie nur sie es tat.

Achtundneunzig Schritte noch in meinem Leben.

Ein Stein trifft mich. Die Wachen sorgen für Ordnung. Aber nur mit einem Grinsen. Ich habe kein Recht mehr auf Unversehrtheit. Meine bloßen Füße suchen weiter Halt und ich stolpere, ich wanke weiter. Ich sehe ihn schon, den Galgen. Ich sehe die Menge, die auf mich wartet. Der Hass steht ihnen in den Augen. Einige umgreifen Steine, als könnte ich noch fliehen.

Als würde ich nicht gleich einem höheren Gericht gegenüberstehen. Man ruft meinen Namen und viele anderen dazu. “Hurensohn”. Und “Mörder”.

Was wissen sie schon, Maria.

Sechsundsechzig Schritte noch in meinem Leben.

“Schuldig” ist ein Wort. Was heißt es schon, wenn es Menschen sind, die es benutzen.

Was wissen sie über dich und mich, Maria, was erdreisten sie sich zu wissen, wie sehr ich dich geliebt habe.

Ich hatte keinen Fürsprecher vor Gericht. Den bräuchte ich auch nicht, meinte der Richter. Für mein Vergehen gäbe es nur eine Strafe. Nur eine Strafe, meinte er. Doch was ist schon der Tod, Maria, verglichen mit der Strafe, nicht mehr bei dir liegen zu können - dich nicht mehr berühren zu können. An dieser Stelle, du weißt schon. Die, bei der deine Stimme sagte “Lass das!” aber dein Gesicht “Mach weiter!”

All dies ist vorbei, Maria.

Achtunddreißig Schritte noch in meinem Leben.

Es war unser Geheimnis, sagtest du. Versprochen warst du Markus. Das wussten wir. Doch wir liebten uns. Jede Nacht schlich ich in deine Kammer und noch im Morgengrauen verließ ich das Haus. Ich war wie ein Schatten. Ein Schatten, der dich liebte, Maria. Und jeden Morgen war die Trennung bittersüß.

Wir kannten die Gefahr. Wenn Markus uns findet, sagtest du, wenn er uns findet, dann würde ich sterben! Du hattest Angst, aber oh, diese Angst, die machte das Spiel noch reizender, noch reizvoller für dich. Und du ließest mich ein. Zuerst in deine Kammer, dann in dein Bett und dann in dich… Du warst so warm und so weich. Und ich war glücklich wie es ein Mann nur sein kann.

Vierunddreißig Schritte noch in meinem Leben.

Und in einer grauenvollen Nacht, Maria, blieb ich bis zum Morgengrauen und darüber hinaus. Ich hielt deinen leblosen Körper in meinem Armen und weinte bitterlich. Ich hätte fliehen sollen, ich hätte fliehen müssen. Doch ich konnte dich nur halten, Maria, in meinen Armen, wie sonst, während dein Blut deinen Hals hinab über deine Brüste lief. Deine Augen starrten - nicht mich an - sondern einen Geist jenseits dessen, was wir wahrnehmen oder begreifen können.

Bald geschah das, was du immer befürchtet hattest. Deine Dienerin kam herein um dich zu wecken und sie sah uns beide zusammen im Bett. Aber sie sah auch, dass niemand dich mehr wecken konnte.

Zwölf Schritte noch in meinem Leben.

Die Wache nahm mich fest, Maria. Dabei war ich doch das Opfer. Es war ein Komplott. Die Sache war sehr schnell klar - für das Gericht - das Urteil schnell gesprochen. Doch woher wollen sie wissen, was vorgefallen war, Maria? Ich muss mich nun stellen dem letzten Richterspruch, doch wer sühnt mich? Wer legt für mich bei den Göttern ein Wort ein? Ich bin doch der, der litt.

Der letzte Schritt meines Lebens.

Ich trete auf das Schafott und die Schlinge wird um meinen Hals gelegt. Der Henker und der Richter verlesen den Fall und das Urteil. So, wie ich das Urteil einst sprach. Verreist warst du, sagtest du mir. Wir könnten uns nicht sehen. Ich bin trotzdem zu deiner Kammer geklettert, ich weiß nicht wieso. Vielleicht wollte ich noch einmal an den Kissen riechen. In deinem Bett liegen und mir vorstellen, du wärst da.

Doch du warst da.

Aber du warst nicht alleine.

Es war nicht Markus, sein Name war anders.

Doch auch diesen sprachst du aus, wie du sonst nur meinen Namen ausgesprochen hattest.

Ich sprach nicht. Dafür mein Dolch. Er verkündete das Urteil und vollstreckte es. An dir und dem Unbekannten.

Ob ich noch ein letztes Wort sagen möchte, fragt mich der Henker.

“Ich habe dich geliebt, Maria. Wo du jetzt auch bist, ich möchte, dass du das weißt. Denn ich denke nicht, dass wir uns gleich sehen.”

Und dann wird es dunkel.


Last modified on 2020-04-02