Geschichten, Gedichte, Essays
von Jens Grabarske
Versteckte Worte
Einkaufen gehen sollte für einen Teenager eigentlich ganz einfach sein. Aber nicht unbedingt in Corona-Zeiten...

Das Bild, “Deep in Thought” von John Brighenti, wurde durch die CC BY 2.0 lizensiert.

Diese Geschichte schrieb ich 2020 als die Maskenpflicht eingeführt wurde um die Ausbreitung von SARS-COV-2 zu begrenzen. Ich hatte sie bei einer Ausschreibung eingereicht für Geschichten, die sich mit den direkten und indirekten Auswirkungen der Corona-Krise beschäftigen. Leider wurde sie nicht genommen.


“He, Jonas, wo steckst du?” schrieb Lukas in sein Handy. Er wippte auf der Bank hin und her und starrte auf das Display. Als nach zwei Minuten noch keine Antwort kam, tippte er “Ich brauche dich, ich schaffe das nicht allein”, schickte es aber nicht ab. Er löschte die Zeile und sendete “Es ist nicht dasselbe, wenn du nicht dabei bist.”

Endlich erschienen drei blinkende Punkte, die zeigten, dass Jonas gerade eine Antwort schrieb. Diese erschien prompt auf dem Bildschirm: “Quarantäne”.

Lukas tippte ein “Wie, Quarantäne?”

Auf dem Handy erschien:

“Mutter hat sich den Coronavirus eingefangen. Ihr geht es gut, aber wir dürfen zwei Wochen das Haus nicht verlassen.”

Gefolgt von einem traurigen Smiley.

“Auch das noch” dachte Lukas.

Er musste es wohl allein durchziehen. Er setzte sich die Maske auf, stand auf und ging auf den Eingang zu. Er wollte gerade eintreten, als sich ein ebenfalls maskierter bulliger Typ mit Glatze vor ihn stellte. Auf dessen Jacke stand “SECURITY” und er starrte ihn an. Lukas nickte und wollte an dem Mann vorbei durch den Eingang gehen. Der Mann hielt ihm die Hand vor die Brust und starrte wieder, dieses mal zornig. Lukas zitterte etwas. Er versuchte zu sprechen, aber der Mann schien nicht zu reagieren. Also griff der Junge in die Tasche und holte einen Notizblock und einen Stift hervor. Er schrieb “Ich bin gehörlos, ich höre Sie nicht, wenn Sie sprechen” und hielt den Block vor sich.

Der Mann wedelte mit der Hand und Lukas brauchte drei Anläufe um ihn dazu zu bekommen überhaupt auf den Block zu sehen, geschweige denn zu lesen, was dort stand.

Schließlich schien er es aber verstanden zu haben. Er las die Zeilen und seine Züge schienen sich zu entspannen. Er deutete auf ein Schild vor dem Gebäude. Darauf stand: “Aufgrund der Corona-Maßnahmen darf der Supermarkt nur mit einem Einkaufswagen betreten werden”.

Lukas nickte und steckte seinen Notizblock zitternd wieder ein. Er drückte einen Euro in einen der Wagen und betrat den Markt, dieses Mal ungehindert, dafür aber mit einem Pochen im Hals.

Er sah sich um. Alle trugen Masken seit dies vor einer Woche vorgeschrieben wurde. Menschen sahen sich an, sahen auf Dinge, ein paar schauten in seine Richtung. Nirgendwo konnte er Lippen sehen. Kein Lächeln, keine Unterhaltung. Es war wie in einem Horrorfilm. Er wusste, dass diese Leute miteinander sprachen, vielleicht sogar pausenlos. Aber er konnte es nicht sehen.

Sprachen welche vielleicht über ihn? Über die Sache mit dem Wachmann? Machten sie sich über ihn lustig?

Lukas wischte den Gedanken weg und steuerte den Wagen durch die Regale.

Im Gang mit dem Mehl stand eine alte Dame und sah ihn an. Lukas wartete eine Weile. Dann blickte er hinter sich und deutete dann auf sich. Die Dame nickte und schaute ihn weiter an. Er brach in Schweiß aus. Was wollte sie? Noch bevor er sich traute etwas zu sagen oder den Block rauszuholen, ging die Dame weg, aber nicht ohne ihn vorwurfsvoll anzusehen.

“Ich kann für dich einkaufen” hatte er seiner Mutter gesagt. “Schließlich bin ich siebzehn und keine acht. Das ist sicher kein Problem, trotz Masken” hatte er gesagt. Da hatte er aber noch damit gerechnet, dass er mit Jonas zusammen einkaufen würde. Jonas kann etwas hören, der hätte zumindest sagen können, wenn jemand die beiden ansprach. Sie beide waren eine Art Heldengespann. Jonas hatte die Superkraft zu bemerken, wenn jemand mit ihnen sprach, dafür hatte Lukas die Superkraft deutlich besser im Lippenlesen zu sein.

Nur, dass Jonas jetzt in Quarantäne und Lippenlesen gerade so nützlich war wie Supermans Röntgenblick, wenn alle Rüstungen aus Blei tragen würden.

Die alte Dame stand jetzt bei einem der Angestellten. Die beiden sahen sich eine Weile an und dann zu Lukas rüber.

Genau in diesem Augenblick betrat das Mädchen mit dem grünen Rucksack den Laden und für einen kurzen Moment vergaß Lukas alles. Wie immer, wenn er sie sah. Sie trug zwar eine Maske, aber ihre Haare und ihre Augen waren immer noch schön.

Er erinnerte sich, wie er Jonas von ihr vorgeschwärmt hatte.

“Ihre Haare sind so braun wie… Blumenerde” hatte er gesagt.

“Du meinst, ihre Haare sehen aus wie Dreck? Wie romantisch!”

“Nein, ich meine… so ein schöner Braunton. Was ist ein schöner Braunton?”

Lukas’ Arme hatte weite, ausschweifende Bewegungen beim Gebärden gemacht.

“Weiß ich nicht. Mahagoni?”

“Ja, Mahagoni. Haare wie Mahagoni und blaue Augen… blaue Augen wie das Meer.”

“Alles klar, Goethe. Und wann sprichst du sie an?”

Die ausschweifenden Armbewegungen hatten aufgehört.

“Weiß nicht. Ich glaube nicht, dass ich eine Chance habe.”

“Klar, weil du ein Lauch bist!”

Für die Bemerkung hatte Lukas ihm einen Schlag auf den Arm gegeben.

Sie ansprechen. Das stellte sich Jonas so einfach vor. Jetzt, wo alle Lippen verdeckt waren, konnte er ja nicht einmal mit einem Wachmann reden. Geschweige denn mit jemandem, bei dem er weiche Knie bekam, wenn er nur an sie dachte.

Und außerdem… Selbst wenn sie sich für ihn interessieren würde, dachte Lukas, dann steht sie vermutlich auf Musik und auf Männer, die Gitarre spielen können und singen und Gedichte vortragen. Nicht auf jemanden, der Angst vor einer alten Dame im Supermarkt hatte, nur, weil er nicht sehen konnte, was sie sagte.

Plötzlich kam ihm noch ein ganz anderer Gedanke: was, wenn das Mädchen plötzlich vor ihm stehen würde und ihn so ansehen würde? Wenn sie etwas von ihm wollte und er es nicht mitbekommt, weil sie durch eine Maske spricht? Was, wenn sie, wie die alte Dame, entnervt weggehen würde und sich dann bei anderen über ihn beschwert?

Er versteckte sich hinter dem Regal mit den Müslis. Er musste sie meiden. Mit pochendem Herz klapperte er die Einkaufsliste ab und achtete dabei gleichzeitig darauf, nicht mit ihr zusammen in einer Abteilung zu sein.

Als er alles im Wagen hatte, wählte er die Kasse neben ihr. So konnte er sie sehen ohne einen Konflikt zu riskieren.

Er bezahlte und stopfte die Einkäufe in den Rucksack, als sein Blick auf sie fiel. Sie war jetzt ebenfalls an der Kasse angelangt. Die Kassiererin hielt ihr eine Wassermelone hin und starrte sie an. Und das Mädchen wirkte unsicher, fast ängstlich. Lukas sah, wie sie einen Notizblock und einen Stift aus einer Tasche holte und anfing zu schreiben.

“Jetzt” gebärdete er in Gedanken an Jonas. “Ich mache es jetzt”.

Er machte einen Schritt und dann einen zweiten Schritt auf sie zu. Langsam und mechanisch bewegte er sich in Richtung der andere Kasse. Schließlich stand er neben dem Mädchen und berührte ihre Schulter. Sie blickte auf und er gebärdete “Ich auch”. Er nahm die Wassermelone und ging zu der Waage im Kassenbereich für die Kunden, die vergessen hatten, ihr Obst zu wiegen oder nicht wussten, dass man das musste. Und mit Wassermelone und Etikett ging er zurück zu ihrer Kasse.

Als Lukas wenig später auf der Bank am Ende der Straße saß, zückte er sein Handy, öffnete den Chat mit Jonas und schrieb “Lisa”.

Drei blinkende Punkte, dann “Was?”

Lukas lächelte und schrieb “Das Mädchen mit dem grünen Rucksack. Sie heißt Lisa.”

Dann sperrte er das Handy und steckte es zurück in seine Hosentasche. Energisch vibrierte es dort und rief nach seiner Aufmerksamkeit, doch die galt nun ganz der Melonenscheibe in seiner linken Hand. Er schloss die Augen, führte sie mit beiden Händen in den Mund und biss ab.

Nichts hatte ihm je so gut geschmeckt.


Last modified on 2022-02-04