Geschichten, Gedichte, Essays
von Jens Grabarske
Morgen
Morgen ist das Land, in dem alle unsere Träume wahr werden. Wir müssen nur irgendwann damit anfangen.

Das Bild, “Winsor McCay, 1930 - TOMORROW” von Alan Light, wurde durch die CC BY 2.0 lizensiert.

Dieser Text wurde auf dem Hammer Poetry Slam im Dezember 2013 vorgetragen - an diesem Abend gewann ich den goldenen Hammer. Hier eine Aufnahme, der Text findet sich dadrunter:


Morgen sage ich meinem Freund, was ich ihm schon immer sagen wollte, meine Meinung, über diese Sache da, die nicht geht. Und morgen habe ich auch keine Angst, ihn als Freund zu verlieren, wir sind doch gute Freunde, echte Freunde, da kann man sich doch sowas auch mal sagen, da kann man doch mal dem anderen ins Gesicht sehen und sagen, he, Freund, das geht aber nicht. Morgen.

Morgen schaue ich mal, ob ich einen besseren Job finde. Vielleicht bin ich ja mehr wert, vielleicht brauche ich gar nicht so viel zu tun, vielleicht gibt es etwas, was schöner ist oder netter oder mit interessanteren Aufgaben. Und ich werde morgen einmal nachfragen. Und Inserate lesen. Und Agenturen fragen. Und morgen habe ich auch keine Angst davor, mich in etwas neues zu stürzen oder alte Brücken abzubrechen oder was meine Kollegen sagen. Morgen.

Morgen fange ich den neuen Trainingsplan an. Endlich weg mit der Wampe. Ich werde Diät halten und jeden Tag mindestens eine halbe Stunde trainieren. Ab Morgen werde ich ein neuer Mensch und in einem halben Jahr werden mich meine Freunde kaum wiedererkennen. Morgen gehe ich ins Fitnessstudio und es wird mir egal sein, dass die anderen viel trainierter aussehen als ich und ich werde nicht daran denken, wie viele Jahre ich mit einem schlechten Lebensstil verschwendet habe und ich werde mir keine Selbstvorwürfe machen oder durch Scham wieder mehr essen als ich sollte. Morgen. Morgen frage ich endlich den Typen, auf den ich schon seit Monaten stehe, ob er mit mir ausgeht. Und es wird mir egal sein, ob er ja oder nein sagt, denn morgen werde ich es nicht nur wissen, dass Zurückweisung nicht schlimm ist, nein, ich werde es fühlen, in mir drin. Und morgen habe ich darum auch keine Angst vor dem Schmerz. Und ich werde mich nicht schon im Vorwege für zu hässlich halten im Vergleich zu ihm oder denken, dass ja jemand wie er unmöglich jemanden wie mich mögen könne oder dass ich ein Idiot bin weil ich überhaupt auf den Gedanken komme, dass er vielleicht “Ja” sagen könnte. Ich werde ihn morgen einfach fragen. Morgen.

“Morgen” ist ein schönes Wort. So weich, so rund. M-o-r-g-e-n. Es geht ja auch schon gut los, mit einem “Mmmh”, das sagen wir, wenn es uns schmeckt, da vibriert der Bauch und wir fühlen uns gut. Dann das “oh”, die freudige Überraschung, dann das “rrr” wie das leise Säuseln zwischen Liebenden. Oder, je nach Dialekt, ein “aaa” der angenehmen Entspannung. Dann ein weiches “g”. Man stelle sich hier ein “k” vor, “Morken”, klänge ja schrecklich. Aber nein, g. Und dann ein weiches “en” als Schluss.

Wie schrecklich ist da das Wort “heute”. Es beginnt schon mit “Heu”, das erinnert doch an lange, harte Arbeit auf dem Feld. Ein grässlicher Klang. Aber er wird dann noch übertrumpft von dem “-te”, ein aggressiver Explosivlaut, der klingt wie eine alte Schreckschraube, die einem ihre Verachtung über ein verlorenes Bonbon-Papier zum Ausdruck geben möchte. “Te!” Im Sinne von “Heben Sie das gefälligst sofort auf, Sie ungehobeltes Ferkel!” Das Wort “heute” wird an Hässlichkeit nur übertroffen von dem Wort “jetzt”. Vier Konsonanten, die eine kleine, einsame, unschuldige Silbe rüpelhaft bedrängen mit nur einem einzigen Vokal, der ihr zur Seite steht. Von diesen vier Konsonanten sind zwei starke Explosivlaute, die Halbstarken unter den Mitlauten, die verbunden werden von einem “zzz”, das ist der Klang, den eine Schlangengrube macht und er ist auch ungefähr so einladend. Über das Wort “sofort” reden wir am besten gar nicht.

Überhaupt alle Worte, die bedeuten, dass man in diesem Moment etwas tun soll. “Heute”, “Sofort”, “Jetzt”, “augenblicklich”, “Aber dalli!”, “Zack, zack!”, “stante pede!”, “umgehend!”, “unverzüglich!”. Alles Worte, die den Kasernenhofton schon eingebaut haben, die einen sofort zusammenzucken lassen. Aber alle Worte, die uns Zeit einräumen sind so weich, so schön.

“Gleich!” das rutscht einem doch von den Lippen wie ein Tautropfen von einer Rose mit einem zarten Kuss zum Abschied. “Nachher” - sanft gehaucht säuselt es daher wie ein lauer Herbstwind. “Später!” - na gut, es gibt Ausnahmen.

Morgen ist das Land der Verheißung, wo sich alle unsere Träume erfüllen. Morgen haben wir keine Schwierigkeiten, Dinge zu tun oder zu erledigen, sind nicht überfordert, haben keine Angst vor dem, was wir nicht können oder noch nicht erreicht haben. Morgen ist ein schöner Moment, er ist das, was wir uns im Jetzt herbeisehnen. Morgen sind wir schlank, morgen sind wir einen Schritt weiter, morgen hatten wir das unangenehme Gespräch, morgen haben wir den Korb kassiert und es hat uns nichts ausgemacht. Morgen. Nur noch diesen Tag überstehen. Dann ist Morgen. Bis zu dem Tag, an dem wir keinen Morgen mehr haben und nur noch eine lange Perlenschnur von Tagen hinter uns ziehen. Von den Tagen, die mal Morgen waren und über den Umweg von Heute zu Gestern wurden. Gestern wollte ich mit meinem Freund reden. Gestern wollte ich mich um einen neuen Job kümmern. Gestern wollte ich ins Fitnessstudio. Gestern wollte ich diesem Typen meine Liebe gestehen. Vorbei. An einem Moment ohne Morgen.

Ich muss das Heute nutzen, solange es noch ein Morgen gibt. Ich fange jetzt an. Ich spreche jetzt mit meinem Freund. Ich schaue jetzt nach einem neuen Job. Ich fange jetzt mit dem Training an. Und ich frage den Typen, auf den ich stehe.

Gleich… morgen.


Last modified on 2013-12-20